Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.

Albert Schweizer deutsch-französischer Arzt, Philosoph (1875-1965)

Der Weg der Menschheit im Zyklus der Zeiten

Seit mehreren Iahrtausenden lebt die Menschheit in einer Zeit des Vergessens‚ des Verdrängens und des Projizierens. Mittlerweile wird fast überall geglaubt, Korruption, Konflikte, Kriege, Krankheiten seien normal und unvermeidlich: „Dies alles hat es schon immer gegeben."
Mit der heutigen Wendezeit beginnen die Menschen jedoch, sich wieder an ihre „mythologische“ Vergangenheit zu erinnern. Vieles, was aus moderner Sicht mythisch erscheint, hat einen historischen Kern, so auch die weltweit vorhandenen Beschreibungen der verschiedenen Zeitalter. Meistens wird von vier Zeitaltern gesprochen, aber auch von
fünf oder sieben. Kein Mythos sagt, der Mensch stamme von den Tieren ab. Im Gegenteil, wir hören, dass die Menschen früher ohne Gewalt, ohne Aggression und ohne Krankheiten lebten. (So ungewohnt der Gedanke heute ist, dass wir frei von allen Krankheiten sein könnten, so wäre dies doch das Natürlichste der Welt. Wir brauchen uns nur daran zu erinnern, dass Tiere praktisch nie krank werden, wenn sie in ihrer eigenen, reinen Umwelt leben können. Sie verunfallen höchstens, aber sie fallen nie aus dem Gleichgewicht ihrer Gesundheit.)
Die Beschreibungen der früheren Zeitalter, die wir heute noch kennen, sind aus unserer Sicht antik, aber sie sind trotz ihrer 2000 oder 2500 ]ahre Produkte des „dunklen“ Zeitalters, mit all den Verzerrungen aufgrund von Wunschdenken und eigener Phantasie und den Prägungen durch die damals vorherrschenden Weltbilder und Glaubenssysteme. Dies gilt für die hinduistischen Schriften genauso wie für die europäischen und altamerikanischen Überlieferungen. Dennoch, wie bereits erwähnt, haben all diese Mythen einen historischen Kern. Der Grieche Hesiod (um 700 v. Chr.) schrieb, die Menschheit stamme von einem Goldenen Geschlecht ab, dem das Silberne und das Kupferne Geschlecht folgten, dann das Geschlecht der Heroen und dann das Eiserne Geschlecht. Die griechischen Philosophen Anaximander, Anaximenes, Heraklit, Diogenes von Apollonia und Platon berichten von wiederkehrenden Weltzerstörungen und anschließend neu beginnenden Zeitaltern, ebenso der Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos, der bereits im 3. Jh. v. Chr. lehrte, die Erde drehe sich um die Sonne. Philon von Alexandrien schreibt in seinem Buch Über die Ewigkeit der Welt (ca. 30 n. Chr.)‚ dass die Schule der Stoiker lehre, unsere Welt werdein periodischen Kataklysmen („Weltenbränden“) immer wieder neu geformt. Der römische Dichter Ovid (43 v.Chr.— 18 n. Chr.) machte diese alte Überlieferung durch sein Hauptwerk Metamorphosen bekannt. Mit seiner Beschreibung der vier Zeitalter prägte er auch den Begriff des „Goldenen Zeitalters" (lat. aurea aetas).
Im Folgenden möchte ich die Mythos— und Logos-Mosaikteile der ersten fünf Kapitel zu einem „mytho—logischen“ Gesamtbild zusammensetzen, das ein neues, ganzheitliches Verständnis der anthropologischen und archäologischen Befunde eröffnet: Ursprung und Geschichte des Menschen aus einer Sicht jenseits von Darwinismus und Kreationismus. Verständlicherweise kann ein solcher Versuch nur skizzenhaft sein, denn jeder einzelne Punkt erfordert weitere und neue, pionierhafte Forschungen, die auch die Metaphysik und die Parapsychologie mit einbeziehen. So wie das Materielle immer mit dem Spirituellen Verbunden ist, ist auch unsere Geschichte nicht von den höheren Welten zu trennen. Diese Welten waren schon immer da und sind aus der irdischen Sicht der Bereich „hinter den Kulissen", aus dem die einzelnen Akteure hervortreten und in dem sie wieder „verschwinden“. Der Vergleich mit einer Theaterbühne ist sehr treffend: Jede im Theater dargestellte Welt ist das Abbild einer „realeren“ Welt, ohne die es auch die Theaterbühne nicht gäbe…

Warum die Zeit zyklisch verläuft

Das Mysterium Zeit entsteht aus dem Zusammenspiel von Ewigkeit und Unendlichkeit (S. 33f.). Materie organisiert sich nicht selbst, sondern existiert vor dem „Hintergrund“ der Ewigkeit, die raum- und zeitlos ist. Jede materielle Form, angefangen mit den Universen, hat einen Anfang und ein Ende. Weil die materiellen Schöpfungen aber Ausdruck des ewigen Urgrundes sind, ist jedes Ende ein neuer Anfang, und das auf allen Ebenen. Materielle Formen entstehen und vergehen, aber die Materie selbst bleibt bestehen und wandelt sich um („das einzig Konstante ist die Veränderung") und erneuert sich in Zyklen. Im Zyklischen widerspiegelt die Unendlichkeit der Materie die Ewigkeit des spirituellen Urgrundes.
In der altindischen Kosmologie sind die größten Zyklen das Ein- und Ausatmen Viṣṇus: das Entstehen und Vergehen der Universen. Innerhalb dieser unendlichen Zyklen „existiert“ die Zeit, die wie der Raum multidimensional ist. Das erste und höchste Lichtwesen im Universum ist der Schöpfergott Brahmā*, und Brahmā ist die Schlüsselperson der kosmischen Zeitrechnung.
Brahmās Welt ist das materielle Abbild der ewigen Welt Gottes, des allumfassenden Urgrundes, und aus Brahmās Welt gehen sukzessive die nächsten Schöpfungen hervor, bis die Hierarchie von Dimensionswelten aus immer dichterer Materie vollständig entfaltet ist. Holistische Quantenphysiker sprechen hier von dem Hervorgehen der „expliziten Ordnung“ aus der „impliziten Ordnung“ (David Bohm).
In den Uranfängen des Universums gab es also noch keine verdichteten Himmelskörper. Diese sind erst später durch Involution aus den höheren Dimensionswelten hervorgegangen. Die grobstofflichen Welten werden in kosmischen Zyklen geschaffen und aufgelöst, während die höheren Dimensionswelten wie eine unsichtbare, scheinbar zeitlose Kulisse weiterexistieren (bis auch sie, beim endgültigen Ende des Universums, wenn Viṣṇu einatmet, wieder aufgelöst werden).
Relevant für unsere irdische Zeitrechnung sind die „Tage des Brahmā“ und die dazugehörenden Unterzyklen: die galaktischen, solaren, lunaren und planetaren. Die größten Zeiteinheiten auf der Erde sind die vier Yugas. Die tausendfache Länge dieser vier Yugas entspricht der Länge eines Tages von Brahmā (siehe Exkurs am Ende dieses Kapitels).

Die „ausgestorbenen“ Menschen der früheren Yogas

Zeit ist nicht unabhängig vom Raum, weshalb sich im Lauf der Zeit auch der Materiezustand verändert. Um aufzuzeigen, dass Raum und Zeit nicht voneinander zu trennen sind, schuf Albert Einstein den Ausdruck „Raumzeit“. Dieses Verständnis beinhaltet auch das Sanskritwort yuga, das in diesem Sinn nicht bloß „Zeitalter", sondern „Raumzeitalter“ bedeutet. Wir können also nicht mit einer linearen Logik Rückschlüsse auf die früheren Zeitalter ziehen. Der Körper des Menschen im ersten Yuga (Satya-Yuga) war noch nicht so verdichtet wie der Körper der heutigen Menschen, das heißt: Diese Menschen wären für uns unsichtbar! (Wie bereits auf S. 26f. erwähnt, hinterließen die frühesten Menschen keine Knochen, und auch sonst blieben aus früheren Yugas praktisch keine Menschenknochen erhalten. Rekonstruktionen der „Abstammung“ des Menschen mit Knochen von angeblichen Menschenvorfahren beruhen auf einem Zirkelschluss, weil Knochen von Hominiden, Südaffen usw. für Knochen von Menschenvorfahren gehalten werden.)
Gegen Ende des Satya-Yugas oder spätestens im zweiten Yuga (Tretā-Yuga) kam der Körper des Menschen in einen physisch verdichteten Zustand, wurde also — auch für unsere Wahrnehmung — sichtbar. Diese Menschen hatten voll aktive Energiezentren (Chakras) und dadurch auch einen bewussten Zugang zu den Prana-Energien. Das bedeutet, sie hatten PSI-Kräfte. Auch hier können wir nur begrenzt vom heutigen Menschen Rückschlüsse auf die damaligen „Urmenschen“ ziehen. Die physisch kompakte Form des Menschen, wie wir sie heute kennen, entstand wahrscheinlich erst während des dritten Yugas (Dvāpara-Yuga), das rund 800 O00 Jahre dauerte und vor 5000 Jahren zu Ende ging.
Die Entwicklung der Yugas ist in den Sanskritschriften ein häufiges Thema. Eine der ausführlichsten Stellen findet sich im Epos Mahābhārata (Vana-Parva 148). Dort wird ein Gespräch beschrieben, das am Ende des vorigen Yugas, also vor gut fünftausend Jahren, stattfand. Der Heros Bhīma trifft den berühmtesten „Affenmenschen“, den göttlichen Hanumān, und bittet ihn, dass er ihm in seiner Satya-Yuga-Gestalt erscheinen möge. Hanumäns Antwort ist verblüffend: „Du, Bhīma, könntest den Körper, den ich im Satya-Yuga hatte, nicht sehen!“ Mit anderen Worten, sogar für einen Heros des letzten Zeitalters wären die Menschen des Satya-Yugas unsichtbar gewesen. Wie viel mehr also für die Menschen des heutigen Zeitalters!

[Hanumān antwortete:] „Die Körpergestalt, die ich im Satya-Yuga hatte, könnte gegenwärtig niemand wahrnehmen, weder du noch irgend jemand anders. Der Zustand der Dinge war in jenem Yuga ein anderer gewesen und ist heute nicht mehr existent. Im Satya-Yuga herrscht ein ganz bestimmter Zustand der Materie, im Tretā-Yuga ein anderer und im Dvāpara-Yuga nochmals ein anderer. Von Yuga zu Yuga findet eine Verringerung und Verminderung statt, und so habe ich heute nicht mehr dieselbe Gestalt wie damals. Der Planet, die Flüsse, die Pflanzen und Steine sowie die Siddhas, Devas und Ṛṣis passen sich der Zeit an, in Entsprechung zum jeweiligen Yuga. Deshalb, o Held der Kuru-Dynastie, fordere nicht, meine damalige Gestalt zu sehen. [...]
Das erste Yuga war ein Zeitalter der Vollkommenheit, weshalb es kṛta (,vollkommen‘) genannt wird. Es bestand keine Notwendigkeit von physischer Arbeit. Alles, was zum Leben notwendig war, wurde einfach durch Gedankenkraft erlangt. Das einzige Ziel des Lebens bestand darin, Loslösung von der Materie zu entwickeln. Deshalb gab es in diesem Yuga keine Boshaftigkeit, keinen Stolz, keine Heuchelei, keine Uneinigkeit, keine Missgunst, keine Hinterhältigkeit, keine Angst, kein Elend, keinen Neid und keine Habsucht. Das höchste Ziel aller Yogis — das höchste Brahman, die spirituelle Welt — war für alle erreichbar. [...]
Im nachfolgenden Yuga, dem Tretā-Yuga, wurden Zeremonien eingeführt, und die Reinheit verringerte sich um ein Viertel. In diesem Yuga begannen die Menschen, gewünschte Dinge durch äußere Mittel zu erlangen, und sie erlangten sie durch Handlungen und gegenseitiges Schenken [und nicht mehr durch Gedankenkraft]. Sie wichen nie vom Pfad der Tugend ab, waren der spirituellen Entwicklung hingegeben und kannten nur das Verschenken. [...] Im Dvāpara-Yuga verringerte sich die Reinheit auf die Hälfte. Die Handlungen wurden vielfältig, und die Menschen gerieten zunehmend unter den Einfluss materieller Absichten, sowohl in ihren Bemühungen um Selbsterkenntnis als auch in ihrer Wohltätigkeit. Nur noch wenige waren in der vollkommenen Wahrheit gefestigt. Wenn die Menschen von der Wahrheit abfallen, wird ihr körperliches Dasein beeinträchtigt; Habgier und auch Störungen in der Natur sind die Folge. Die meisten Menschen praktizieren Religion nur noch, weil sie sich von diesen Leiden und Gefahren bedroht sehen. Oder sie führen Zeremonien in Frömmigkeit aus, weil sie sich den Genuss angenehmer Dinge oder die Erhebung in die himmlischen Welten wünschen. Wenn das jetzige Dvāpara-Yuga zu Ende geht, werden die Menschen aufgrund dieser Gesinnung des Eigennutzes weiter in die Materie versinken. O Sohn Kuntīs, wenn das Kali-Yuga anbricht, wird die Reinheit nur noch zu einem Viertel vorhanden sein, und im Verlauf dieser eisernen Zeit wird sie noch mehr abnehmen. [...] Im Lauf der Yugas verringert sich die Reinheit, und wenn die Reinheit des Bewusstseins abnimmt, sinken die Geschöpfe immer tiefer in die Spaltung [Dualität]. Indem dies geschieht, verschlechtert sich der Zustand ihres Lebens.“